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Ich nahm den Hörer in die Hand. »Heute nicht mehr«,
sagte ich.
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»Ich möchte, dass wir uns morgen Abend sehen,
verstanden?«, schrie Ute.
Ich sagte: »Ja.«
Wir legten auf.
Ich würde morgen Abend nicht da sein. Ich würde mich
drücken.
Wie Maximilian Grauke.
Wie all die anderen seinesgleichen.
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10
eit der Auslieferung der Zeitung hatten mindestens
S
vierzig Personen den Schuster gesehen. Auf der
Straße, in der U-Bahn, in einem Kaufhaus, im Englischen
Garten mit einer jungen Frau, in fünf verschiedenen
Supermärkten zur gleichen Zeit.
Noch zu Hause hatte mich Andy Krust angerufen, einer
unserer jungen Kommissare, um mir mitzuteilen, die
Wirtin einer kleinen Pension in Neuperlach behauptet,
Grauke habe Anfang vergangener Woche bei ihr gewohnt.
Zwar habe er einen anderen Namen benutzt, aber sie sei
sich ganz sicher, dass er es war. Also sagte ich Andy, ich
würde später ins Dezernat kommen und gleich nach
Neuperlach fahren. Was zeitaufwändig war. Vor allem,
wenn man nicht die U-Bahn benutzte. Ich benutzte sie
höchstens nachts, und dann auch nur, wenn ich etwas
getrunken hatte. Immer wieder hatte ich versucht, tagsüber
damit zu fahren. Ich stieg am Giesinger Bahnhof ein,
stellte mich nah an die Tür und beachtete niemanden. Eine
Station später stürzte ich wieder hinaus. Ich ertrug die
geschlossenen Türen nicht. Die Leute in meiner
unmittelbaren Nähe. Die Geschwindigkeit des Zuges. Mir
kam es vor, als würde die Bahn nicht waagrecht in den
Tunnel einfahren, sondern sich senkrecht immer tiefer in
die Erde bohren. Kaum war ich zurück im Tageslicht,
hörte mein Herz auf, wie gestört zu schlagen, das Flattern
in meinen Beinen verschwand und der Schweiß tropfte mir
nicht mehr aus den Achselhöhlen wie Wasser von einer
Dachrinne.
Nur die Vorstellung, in einem Flugzeug zu sitzen, war
noch furchtbarer.
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Dabei war ich schon geflogen. Als Kind. Mit meinen
Eltern. Als mein Vater meine Mutter zu einem
amerikanischen Schamanen gebracht hatte, damit dieser
sie heile. Und nie bekam ich heraus, wie er auf diese Idee
verfallen war. Doch meiner Mutter ging es nach dem
Besuch tatsächlich besser, einige Zeit wenigstens. Der Bus
verließ die Stadt in östlicher Richtung. An der Haltestelle
Neuperlach-Zentrum stieg ich aus und machte mich auf
den Weg zum Ostpark. In der Staudinger Straße befand
sich die »Pension Sonne«. Ich brauchte eine halbe Stunde.
Was hatte Grauke in dieser Trabantenstadt zu suchen?
Nichts als Hochhäuser, Ausfallstraßen, Einkaufszentren,
Beton und Anonymität. Das extreme Gegenteil des
Viertels, in dem er seit Jahrzehnten lebte. Suchte er das
extreme Gegenteil? Warum? Sinnlose Frage. Vom Beginn
meiner Arbeit in der Vermisstenstelle an hatte ich mich
gezwungen, nicht nach dem Warum zu fragen. Jedenfalls
diese Frage nicht zum Motor der Suche werden zu lassen.
Vielleicht ergab sich das Warum am Ende. Oft jedoch
fanden wir einen Vermissten, und die Frage nach dem
Warum blieb trotzdem ungeklärt. Genau genommen ging
uns die Antwort auch nichts an. Unsere Aufgabe war es,
Körper zu suchen, nicht Seelen.
Manchmal erfuhr ich etwas. Weil ich nicht aufhörte
zuzuhören. Nichts davon stand je in einer Akte. Vor dem
Eingang der »Pension Sonne« blieb ich einen Moment
stehen. Ich hatte die Lederjacke ausgezogen, das weiße
Hemd klebte mir am Körper. Ich schwitzte. Das war eine
meiner angenehmsten Empfindungen. Je mehr ich
schwitzte, desto anwesender fühlte ich mich. Und aus
einem Grund, den noch niemand erforscht hatte, roch ich
nicht nach Schweiß. Anscheinend hatte ich eine
menschenfreundliche Haut.
»Kommen Sie!«, sagte die blonde Frau mit der roten
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Brille. »Schnell!«
Sie lief mir voraus in den ersten Stock hinauf. Das
Zimmer, das sie mir zeigte, war winzig und hell. Durch
das offene Fenster drang laut der Straßenlärm.
»Hier«, sagte Veronika Mrozek, »das ist es!« Sie zog die
zusammengeknüllte Zeitung aus der Schürzentasche. Das
Foto von Grauke hatte sie mit einem blauen Stift
eingekreist. »Er war da. Er hat sich Schuster genannt, Jan
Schuster. Und jetzt les ich, dass er von Beruf Schuster ist.
So ein Witzbold!«
»Und er wohnt in der Jahnstraße«, sagte ich. Als einen
Witzbold hatte Maximilian Grauke bisher niemand
bezeichnet.
»Drei Tage war er da«, sagte sie, »Montag, Dienstag,
Mittwoch.«
»Wann genau ist er gekommen?«
Sie sagte: »Am Sonntag, Sonntagnachmittag. Er hat
einen Koffer dabeigehabt, keinen großen. Er war sehr nett,
er hat gesagt, er war auf einer Beerdigung und möchte
noch ein paar Tage hierbleiben. Er hat früher mal hier in
der Gegend gewohnt, hat er gesagt.«
»Was für eine Beerdigung?« Ich setzte mich aufs Bett.
Der Fernseher sah neu aus. An der Wand gegenüber hing
das Gemälde einer Berglandschaft.
»Hat er nicht gesagt«, sagte Frau Mrozek. Sie
betrachtete wieder das Foto. »Auf dem Bild hier ist er
jünger, in Wirklichkeit wirkt der Mann viel älter als er
wahrscheinlich ist. Er geht ziemlich gebeugt, hat er was [ Pobierz całość w formacie PDF ]

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